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Presseecho vom 23.10.2005

Stadt, Land, Flut

Und frisches Wasser rinnt auf die Ruinen: Wo die Landschaft in der Lausitz nicht blühen will, wird sie in einen riesigen See verwandelt

von ANDREAS LESTI

- mit freundlicher Genehmigung der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG

Eigentlich ist alles da: die Parkplätze an der Seestraße, die zehnsprachigen Begrüßungsplakate, die Uferpromenade, das Hafenbecken, die Seebrücke, die Sonnenterrasse, die Liegestühle, ja, sogar die sanfte Brise, die die Fahnen mit der Aufschrift "see" an den Stangen klackern läßt und die Wasservision ins Bewußtsein weht. Eigentlich ist alles da in Großräschen, dem "Tor zur Lausitzer Seenplatte" - bis auf den See.

See is what you get

Willkommen im "Bewegten Land", in der "Zwischenlandschaft zwischen Grube und See", wie die IBA-Werkschau die absurde Situation beschreibt, in der sich die Lausitz befindet. Die IBA, die Internationale Bauausstellung "Fürst-Pückler-Land", soll über zehn Jahre hinweg den Landschaftswandel in der Brandenburger Region dokumentieren. 2005 ist Halbzeit - ein guter Anlaß, auf die nächsten fünf Jahre zu blicken, in der eine bislang eher untergeordnete Aufgabe der IBA an Bedeutung gewinnen wird: die Region touristisch attraktiv und zugleich überhaupt tourismustauglich zu gestalten.

"Das geht alles nicht über Nacht", sagt Karsten Feucht. Doch allmählich gewöhne man sich hier an Fremdenverkehr. Mit Erleichterung sagt Feucht, der bei der IBA für Tourismus zuständig ist: "Dafür, daß man noch vor einem Jahr gefragt hat, was es hier außer Kohle, Staub und Dreck zu sehen gibt, sind wir doch schon recht weit gekommen." Und mit Bedacht fügt er hinzu: "Die Schwierigkeit an der Situation ist nur, daß wir als letzte das Wasser kriegen."

Schon 2004 haben 200 000 Menschen die verschiedenen IBA-Projekte besucht, und man geht davon aus, daß diese Zahl 2005 deutlich überboten wird. Neben der F 60, der zugänglichen Förderbrücke bei Lichterfeld, rückten vor allem die IBA-Terrassen in Großräschen ins Zentrum des Interesses. Dort wird am heutigen Sonntag mit einer großen Veranstaltung das Saisonende gefeiert und die letzten Tagebautouren 2005 angeboten. Doch die Wanderungen durch das Kohle-Restloch des ehemaligen Tagebaus Meuro wird es auch noch geben, wenn der See geflutet wird, heißt es. Man wird sie dann mit einer Floßtour auf dem halb gefüllten See verbinden.

Das, was man auf dieser Tour erkundet, wirkt, als hätte sich ein wahnsinniger Landschaftsplaner die Oberflächenstrukturen ausgedacht: Verwinkelte Risse durchziehen tiefgraue Plateaus, rotgelbe Dünen ragen in den Himmel, und der Wind bläst feinen Sand über die Hänge braunbeiger Hügelformationen. Die Spuren der Schaufelradbagger, der Restschlauch der Förderbrücke und viele andere Rudimente der Bergbauzeit verleihen der Landschaft eine Schönheit, die man ihr niemals zugetraut hätte und ihre Betrachter in den Bann zieht. Man denkt an Mondlandschaften, asiatische Wüsten oder an amerikanische Canyons - an so ziemlich alles, nur nicht an Brandenburg. IBA-Tourenführer Rainer Düvell bezeichnet den Begriff "Mondlandschaften" als ein Sinnbild für den Imagewandel der Landschaft. "Das war doch früher ein negativer Begriff für diese Gegend." Heute benutzt man es als touristisches Verkaufsargument. Düvell behauptet: "Sobald man sagt: Hier ist es schön, dann ist es tatsächlich schön." Und das funktioniere auch ohne Wasser, dessen Oberfläche, wenn sie denn schon da wäre, etwa fünf Meter über Düvell in der Sonne glitzern würde. Statt dessen ragt da jetzt hinter ihm ein Teil eines ehemaligen Tagebau-Absetzers als 63 Meter lange Seebrücke in die leere Grube.

So unwirklich wie die Landschaft in der Gegenwart des Jahres 2005 anmutet, so unwirklich muten auch die Pläne an, die die Region in den nächsten Jahren verwandeln soll. Die bizarre Industriebrache soll bis 2018 endgültig im Wasser verschwunden sein - in der größten jemals von Menschenhand geschaffenen Seenlandschaft Europas. Über zwanzig ehemalige Gruben sollen bis dahin geflutet sein, darunter der Neuwieser See (2009), der Partwitzer See (2010), der Sedlitzer See (2015) und zum Schluß der Ilse-See (2018). Wenn der Zeitplan eingehalten wird, denn soll die Flutung dieses letzten Gruben-Restloches der DDR im Dezember dieses Jahres beginnen. Bestandteil der schiffbaren Seenkette soll dann auch der Senftenberger See sein, der bereits zu DDR-Zeiten geflutet wurde und sich als Badesee und Erholungsort längst einen Namen gemacht hat.

Die Zukunft wird dafür mit statistischen Trockenübungen greifbar gemacht, indem man die Lausitz mit dem Fränkischen Seenland vergleicht. Diese ebenfalls künstlich erschaffene Ferienregion südlich von Nürnberg wurde im Jahr 2001 fertiggestellt und lockt seitdem jährlich rund fünf Millionen Gäste an. Eine Zahl, bei der man in Brandenburg unwillkürlich zu rechnen beginnt und sich einen millionenstarken Besucheransturm vorstellt. Wenn die Seenplatte in der Lausitz fertig ist, kommt sie auf eine Fläche von 12 700 Hektar und ist dann 14 Mal so groß wie ihr fränkisches Pendant. Im Herbst des Jahres 2005 geht man mit solchen Zahlen allerdings noch sehr vorsichtig um. Das gigantische Tourismusprojekt "Erlebniswelt Lausitzer Seenland" scheint dagegen durchaus mit dieser Dimension zu kalkulieren. Das geplante Golfhotel am Sabrodter See will bis 2009 rund 1200 Betten im Ganzjahresbetrieb anbieten.

Land unter

Düvell ist mittlerweile am tiefsten Punkt des Ilse-Sees angekommen. Um der Vorstellungskraft auf die Sprünge zu helfen, läßt er einen Gasluftballon an einem Nylonfaden nach oben steigen. "Fünf Meter, das ist das Jahr 2007 - zehn Meter, 2009 - zwanzig Meter, 2013" - bis der Ballon schließlich vierzig Meter über den Köpfen als Boje auf der Wasseroberfläche von 2018 hin und her schaukelt. Wenn dieser Stand erreicht ist, dann sind 153 Millionen Kubikmeter Wasser in die Grube gelaufen, die Fläche des Ilse-Sees ist auf stolze 771 Hektar gewachsen - das ist 18 Mal so groß wie die Oberfläche des Müggelsees in Berlin. Doch bis dahin gebe es noch "sehr mühselige Arbeiten" zu verrichten. Zunächst würden die Pumpen abgestellt, die das Einsickern des Grundwassers seit fast fünfzig Jahren verhindern. Außerdem leitet eine sogenannte Flutungszentrale Wasser aus der Spree, der Schwarzen Elster und der Neiße in die Grube. Die Flutung muß sehr genau vorbereitet werden. Rainer Düvell spricht von Rüttelverdichtungen, vom einheitlichen Böschungswinkel, von nichtverwurzeltem Material und von Erdrutsch-Flutwellen. Wenn das Wasser da ist, dann könnten immer wieder instabile Hänge abrutschen und bis zu zwei Meter hohe Flutwellen auslösen. Tsunamis mitten in Brandenburg. Es klingt alles absurd.

Nicht minder absurd ist die Situation, in der sich das 14 000 Einwohner große Großräschen befindet. Es ist ein Ort, der nicht mehr vom Bergbau und noch nicht vom Tourismus lebt. Seit 150 Jahren sind dort ganze Generationen mit Kohle groß geworden. Und jetzt: Seenlandschaft? Tourismus? Dienstleistung? Als vor drei Jahren die IBA-Touren begannen, spazierten erstmals auch die Einwohner wieder von Großräschen über die Seestraße, die damals noch Thälmannstraße hieß, vorbei am Parkplatz, auf dem Autos mit fremden Kennzeichen standen, bis zur Grubenkante. Sie wollten nun doch mal sehen, was dort unten plötzlich so interessant sein soll und die Welt außerhalb Großräschens herbeilockt. Und vielleicht wollten sie auch sehen, wie sie in Zukunft Geld verdienen würden. Eine der Einwohner, die den Sprung in den Tourismus schon geschafft hat, ist Dorothea Miottke. Sie ist die Pächterin des Cafés auf der IBA-Terrasse und verdient seit der Eröffnung vor einem Jahr dank der Grube ihren Lebensunterhalt. Ausgerechnet sie hatte bis 1987 in Großräschen-Süd gelebt, dem Ortsteil, der 1988 der Grube weichen mußte. Sie sagt: "Heute kann ich vom Café aus direkt dorthin sehen, wo früher meine Heimat war." Damals wurden 4500 Menschen in Plattenbauten in den Norden der Stadt umgesiedelt. Zehn Jahre später war die Grube dann "ausgekohlt", der Abbau beendet, und viele Menschen haben nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihre Arbeit verloren. Deswegen wird Dorothea Miottke so oft als positives Beispiel dafür herangezogen, daß es in Großräschen wieder eine Perspektive gibt. So ist die bislang vermutlich größte Errungenschaft der IBA, daß neben den Touristen mittlerweile auch Einheimische an Sonntagvormittagen zur Seeterrasse schlendern, dort plaudern und in die Grube blicken.

Zu neuen Ufern

Folgt man der Seestraße von den IBA-Terrassen nach Norden, dann gelangt man nach einem zehnminütigen Fußmarsch ins Ortszentrum von Großräschen. Es ist ein schöner Ort mit Klinkerbauten der Jahrhundertwende und mit Kopfstein gepflasterten Alleen, über die im Herbst die Lindenblätter treiben und wo einsame Radfahrer in der tiefstehenden Sonne lange Schatten werfen. Hier, am Kurmärker-Saal, wirkt das Seestraßen-Schild noch befremdend - neben dem Quelle-Shop, der Sparkasse, der City-Pizzeria, dem Friseur "Struwwelpeter". Immerhin, es gibt einen Irish-Pub und zwei Hotels im Ortskern: das "Hotel zur Altstadt" und das "Markt-Hotel", wo die Eingangstür sich nur unter Aufbietung aller Kräfte öffnen läßt. Drinnen ist es dunkel, und eine junge Bedienung mit Augenbrauen-Piercing stellt zwei älteren Herren gerade zwei Radeberger auf den Tresen. Alle drei sehen sich verwundert um. "Ein Zimmer?" fragt die Bedienung, und kaum hat man die Frage bejaht, sagt einer der beiden Herren: "Na dann, viel Spaß beim Klassentreffen." Er lächelt dabei mit der Überlegenheit eines Menschen, der soeben den einzig möglichen Grund erkannt hat, der einen Fremden ins "Markt-Hotel" nach Großräschen führt. Es werden wohl noch ein paar Jahre vergehen müssen, ehe ihm noch andere Gründe für den Besuch des "Tors zur Seenplatte" einfallen.

Auf Anfrage sind auch im Herbst und Winter geführte Gruben-Touren möglich. Informationen unter Tel. 03 57 53/26 10 oder im Internet unter www.iba-see.de. Anfahrt: A 13 (Dresden-Berlin) bis zur Abfahrt Großräschen, dann über die B 96 in den Ort und an der zweiten Ampel rechts.

Über den Autor: www.redaktionsflanke.de

Quelle: FAS - Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

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letzte Änderungen: 13.3.2017 22:12